2. große Strafkammer des Landgerichts Verden
17.08.15, 10 Uhr
- Anwesend:
- Der vorsitzende Richter, zwei Beisitzer_innen, zwei Schöff_innen
Staatsanwältin - Der Angeklagte (Ismail G.), seine Verteidigerin RAin Tuku, eine Übersetzerin
- Eine Schriftführerin, drei Justizpolizisten
- Zwei Prozessbeobachterinnen, zahlreiche Angehörige und Freund_innen des Angeklagten
Als wir den Verhandlungssaal etwas verspätet gegen 10:20 Uhr betreten, stellt die Staatsanwältin (StA) gerade einen Beweisantrag. Dies überrascht uns, da wir davon ausgegangen waren, dass die Beweisaufnahme bereits beendet sei, die StA und die Verteidigerin ihre Plädoyers halten würden und das Gericht sein Urteil sprechen würde.
Jetzt beantragt die StA jedoch, dass weitere Telefonüberwachungsprotokolle in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Zur Begründung sagt sie, die Protokolle würden zeigen, dass es sich bei den Schleusungen um ein Finanzgeschäft gehandelt habe und die Beteiligten nicht von altruistischen Beweggründen geleitet worden seien. Das komme darin zum Ausdruck, dass der Angeklagte und andere Mitglieder der mutmaßlichen Bande abfällige Bemerkungen (Esel, Blödmann) über die „Geschleusten“ gemacht hätten. Außerdem gehe aus den Protokollen die koordinierende Funktion des Angeklagten hervor, so habe er erhebliche Geldsummen in Empfang genommen.
Die Verteidigerin ist offensichtlich verärgert über den Beweisantrag. Sie beschwert sich über unsachliche Äußerungen in der Argumentation der StA und beantragt, den Antrag abzuweisen. Das Gericht zieht sich kurz zur Beratung zurück und entscheidet den Antrag zuzulassen. Daraufhin verlesen die drei Berufsrichter_innen in verteilten Rollen TÜ-Protokolle gemäß dem Antrag der StA. Es handelt sich zunächst um zahlreiche Telefonate aus dem „Sonderheft TKÜ Bandenstruktur“, die zwischen Februar und Mai 2014 abgehört und aufgezeichnet wurden.
An den Telefonaten sind neben dem Angeklagten vor allem dessen Vater und der Hoca beteiligt. Es geht um Personen, die unterwegs festgehalten werden, um Probleme bei der Beschaffung von Pässen und Visa und um das Hinterlegen sowie die Übergabe von Geld. Zweimal erkundigen sich Anrufer beim Vater des Angeklagten, wieviel die Fluchthilfe von Syrien nach Deutschland beziehungsweise in ein anderes europäisches Land koste und wie lange die Reise dauere. Der Vater erklärt, bis Deutschland koste es „10“ (vermutlich 10.000 Euro), in andere Länder „9“ (vermutlich 9.000 Euro). Andere seien mit seinen Diensten sehr zufrieden gewesen, die Anrufer könnten dort nachfragen. Auf Nachfrage versichert er, es bestehe für die „Geschleusten“ unterwegs „keine Qual“.
Um kurz nach 12 Uhr wird die Verhandlung für eine längere Pause bis 13 Uhr unterbrochen. Danach wird das Verlesen der TÜ-Protokolle fortgesetzt. Diesmal handelt es sich um Telefonate von April, Mai, Juni und Juli 2014. Themen sind wieder die Übergabe von Geld, Probleme am Flughafen (eine Person hat offenbar das richtige Gate nicht gefunden, eine Boarding Karte konnte nicht übergeben werden), das Einkaufen von Kleidung sowie eine Stromrechnung und das Reinigen einer Wohnung.
Gegen 13:45 Uhr entsteht eine kurze Diskussion, weil RAin Tuku der Meinung ist, dass Protokolle, die im Beweisantrag der StA enthalten sind, bereits in der Hauptverhandlung verlesen wurden. Die StA nimmt schließlich ihre Anregung zu zwei TÜ-Protokollen zurück.
Die Verhandlung wird daraufhin erneut für 15 Minuten unterbrochen. Währenddessen möchten sich einige Besucher mit dem Angeklagten unterhalten. Einer der Justizpolizisten lehnt dies jedoch mit der Begründung ab, dass die Dolmetscherin den Saal verlassen habe (es scheint, als dürfe sich der Angeklagte aus Überwachungsgründen nicht in einer anderen Sprache als Deutsch mit Dritten unterhalten).
Um 14:00 Uhr wird die Verhandlung fortgesetzt. Der vorsitzende Richter erklärt, dass das Verfahren am heutigen Verhandlungstag nicht abgeschlossen werden könne. Es werden zwei weitere Verhandlungstage für den 20. und 21. August angesetzt.
In Reaktion auf die Verlängerung des Verfahrens beantragt RAin Tuku die Aufhebung des Haftbefehls gegen den Angeklagten. Ihr Mandant habe mit dem Abschluss des Verfahrens am heutigen Tage gerechnet; jetzt komme es wegen des kurzfristigen Antrags der StA zu einer Verzögerung. Er habe sich dem Verfahren gestellt, sodass nicht von einer Fluchtgefahr auszugehen sei, außerdem wolle er am kommenden Freitag den Polterabend seines Bruders in Lüneburg besuchen.
Die StA beantragt, den Haftbefehl aufrechtzuerhalten. Zur Begründung betont sie, dass der Angeklagte sich nicht freiwillig gestellt habe, sondern an der türkisch-bulgarischen Grenze festgenommen worden sei.
Das Gericht lehnt den Antrag der Verteidigung nach kurzer Beratung gegen 14:30 Uhr ab. Es sei nicht unverhältnismäßig, den Haftbefehl aufrechtzuerhalten, weil bereits am Freitag entschieden werde. Die Sitzung wird bis Donnerstag unterbrochen.
Der Angeklagte erhält die Erlaubnis, einige Minuten vor dem Verhandlungssaal mit seinen Kindern zu sprechen.
Eine Druckversion (pdf) des Protokolls gibt es hier.