Protokoll Schleuserprozess Verden I

Schleuserprozess, 2. große Strafkammer des Landgerichts Verden
13.07.15, 9 Uhr

    Anwesend:

  • Der vorsitzende Richter, zwei Beisitzer_innen, zwei Schöff_innen
  • Staatsanwältin
  • Der Angeklagte (Ismail G.), seine Verteidigerin RAin Tuku, eine Übersetzerin
  • Eine Schriftführerin, drei Justizpolizisten
  • Sechs Prozessbeobachterinnen von der Uni Osnabrück und eine weitere Besucherin, die aber schon nach kurzer Zeit wieder den Gerichtssaal verlässt

Eindruck zum Gericht: Es gibt keine Sicherheitskontrollen am Eingang, alles wirkt sehr entspannt. Auf Nachfrage weist die Pförtnerin uns scherzhaft darauf hin, dass wir unsere Taschen mit in die Verhandlung nehmen können, dass Waffen allerdings im Gericht nicht erlaubt seien.

Der Angeklagte ist seit Januar 2015 in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft (StA) macht ihm den Vorwurf des banden- und erwerbsmäßigen Einschleusens von Ausländern in fünf Fällen. Seit dem 28.05.15 haben bereits mehrere Verhandlungstage stattgefunden, weitere sind für den 16. und 24.07. und den 17.08. terminiert. Am heutigen sechsten Verhandlungstag findet die Beweisaufnahme zu Fall 4 statt.

In einer Verhandlungspause gibt uns die RAin des Angeklagten ein paar Hintergrundinformationen zum Prozess. Sie hat auch schon den Vater von Ismail G. vertreten, der im Dezember 2014 – ebenfalls wegen des „Einschleusens“ von Ausländern – zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde. Die StA hatte ursprünglich eine vierjährige Haftstrafe gefordert und war in Revision gegangen, diese hat der BGH aber kürzlich abgewiesen. Im Verfahren gegen Ismail G. sind sowohl dieselben Richter_innen wie auch dieselbe Staatsanwältin beteiligt.

Aktuell laufen Verfahren gegen weitere Mitglieder der sogenannten Schleuserbande, gegen sie wurde allerdings noch keine Anklage erhoben.

Während die StA den Angeklagten als Mittäter sieht, ist die Verteidigerin der Ansicht, dass er lediglich „ein kleiner Helfer“ gewesen sei und sein Tatbeitrag demnach als Beihilfe zu qualifizieren sei. In den Fällen 2, 3 und 4 habe er die „Sache“ seines Vaters fortgeführt. Seine Aufgabe habe darin bestanden, im Auftrag eines Hintergrundmannes (des „Hoca“) in Istanbul Kontakt zu den Reisenden und Angehörigen zu halten, außerdem habe er Handy-Sim-Karten gekauft und aufgeladen.

Bei den Schleusungen, die dem Angeklagten vorgeworfen werden, handelt es sich um sogenannte „Luxusschleusungen“: Die Flüchtenden wurden auf dem Luftweg – meistens von Istanbul über Brasilien nach Spanien oder Italien – und dann mit dem Bus nach Deutschland gebracht und mussten keine lebensgefährliche Reise in einem Boot oder einem LKW antreten.

Ablauf der Verhandlung
Zu Beginn gibt der vorsitzende Richter eine kurze Einführung: Es gehe um das banden- und erwerbsmäßige Einschleusen von Ausländern in mehreren Fällen. Am heutigen Verhandlungstag werde der vierte Fall behandelt, hierfür würden vor allem Protokolle von Telefonüberwachungen (TÜ) verlesen.

Die Beweisaufnahme verläuft recht unspektakulär. Die Protokolle werden von den drei Berufsrichter_innen abwechselnd in verteilten Rollen vorgelesen. Manchmal müssen sie sich zwischendurch abstimmen („jetzt möchte ich mal lesen“), die meiste Zeit über funktionieren die Wechsel aber reibungslos. Als nach dem Verlesen des ersten Protokolls eine kurze Pause entsteht, erklärt der vorsitzende Richter an die Zuschauerinnen gewandt: „Wir machen uns jetzt kurz Notizen zu den wesentlichen Inhalten der Gespräche.“

Die Protokolle, die zwischen 9 und 12 Uhr (mit einer 30minütigen und einer 15minütigen Unterbrechung) verlesen werden, betreffen drei Telefonanschlüsse (zwei türkische und einen estnischen), die alle auf den Angeklagten registriert waren. Die abgehörten Gespräche wurden im Mai, Juni und Juli 2014 geführt. In den Telefonaten geht es u. a. um die Übergabe von Geld – teilweise werden hierbei Konflikte deutlich, weil Geflüchtete bzw. deren Verwandte in Deutschland sich weigern, die vereinbarte Summe für die „Schleusung“ zu bezahlen, oder weil strittig ist, wer Geld zu wem gebracht hat und wem demnach ein Rabatt als Entschädigung für die Fahrtkosten zusteht. Mehrmals teilt der Angeklagte Verwandten in Deutschland mit, auf welchem Abschnitt ihrer Reise sich die „Geschleusten“ gerade befinden, wann sie voraussichtlich in Deutschland ankommen oder er beschwichtigt die Verwandten, wenn sie sich Sorgen machen, weil ihre Angehörigen vorübergehend von Grenzpolizisten festgehalten werden. In einem Telefonat geht es um die Übernahme der Verpflegungskosten, während die „Geschleusten“ sich in Brasilien aufhalten.

Der Umgang der Richter_innen mit der StA und der Verteidigung wirkt auffallend freundlich. Der vorsitzende Richter verhält sich fast fürsorglich, indem er sich immer erkundigt, ob alle Beteiligten die richtige Stelle in der Akte gefunden haben, bevor die einzelnen TÜ-Protokolle vorgelesen werden.

Um 12:00 wird der einzige für den Verhandlungstag geladene Zeuge befragt. Es handelt sich um einen Polizeihauptkommissar aus Hamburg, der offenbar an den Ermittlungen gegen Ismail G. beteiligt war. So hat er eine Person aus Lehrte (im Folgenden der Auftraggeber) vernommen, die mutmaßlich die Schleusung ihrer Angehörigen in Auftrag gegeben hat. Da der Auftraggeber in der Verhandlung „nur fragmentarisch“ ausgesagt habe, soll der Polizeihauptkommissar über die Inhalte der Befragung Auskunft geben.

Als strittig erweist sich die Frage, wie der Kontakt zwischen dem Auftraggeber und Ismail G. zustanden gekommen ist. Laut polizeilicher Vernehmung ist der Kontakt „über seinen Vater“ hergestellt worden, nicht eindeutig ist jedoch, ob es sich hierbei um den Vater von Ismail G. oder des Auftraggebers handelt.

Damit verbunden ist die Frage nach der Identität von „Abu Ahmed“, an den der Auftraggeber nach eigener Aussage bei einem Treffen 9000 Euro gezahlt hat. Der Polizeihauptkommissar ist der Ansicht, dass Abu Ahmed der Vater des Angeklagten ist und dass über ihn der Kontakt zu Ismail G. hergestellt wurde. Die Verteidigerin ist hiervon jedoch nicht überzeugt und stellt die Vermutung an, dass Abu Ahmed auch der Hoca sein könnte. Sie fragt den Zeugen, an welchen Telefonaten er festmache, dass die Aussage hinsichtlich der Kontaktherstellung über den Vater eindeutig sei. Er antwortet, das könne er nicht mehr sagen, es handele sich ja schließlich um 90.000 Überwachungsprotokolle, die bearbeitet worden seien. Es bleibt unklar, ob in den Ermittlungen tatsächlich eine solche Menge an Protokollen erstellt wurde oder ob es sich um eine Übertreibung handelt, in jedem Fall gibt diese Zahlenangabe aber einen Hinweis darauf, wieviel Ermittlungsarbeit derzeit in die Überwachung sogenannter Schleuserbanden investiert wird.

Nachdem der Zeuge um 12:30 unvereidigt entlassen wird, erklärt RAin Tuku, ihr Mandant wolle ergänzend zu seiner Einlassung vom 28.05. noch eine Angabe machen.

Der Hoca habe manchmal Hoca, manchmal Abu Ahmed als seinen Namen angegeben. Abu Ahmed bedeute im arabischen Raum: der Vater des ältesten Sohns Ahmed. Der älteste Sohn seines Vaters (bzw. sein ältester Bruder) heiße aber Ali. Daher müsste sich sein Vater Abu Ali nennen, wenn er einen solchen Namen verwenden würde.

Der Richter hört aufmerksam zu, wendet jedoch ein, dass man durchaus erwarten könne, dass ein Schleuser sich einen Aliasnamen gibt. Er, der Richter, würde sich bspw. als Schleuser nicht mit seinem richtigen Namen, sondern vielleicht als Torsten vorstellen.

Die Sitzung wird um 12:37 unterbrochen.

Eine Druckversion (pdf) des Protokolls gibt es hier.