Protokoll Schleuserprozess Verden III

Schleuserprozess, 2. große Strafkammer des Landgerichts Verden
20.08.15, 9 Uhr

    Anwesend:

  • Der vorsitzende Richter, zwei Beisitzer_innen, zwei Schöff_innen
  • Staatsanwältin
  • Der Angeklagte (Ismail G.), seine Verteidigerin RAin Tuku, ein Übersetzer
  • Eine Schriftführerin, drei Justizpolizist_innen
  • Eine Prozessbeobachterin, eine Journalistin, einige Angehörige des Angeklagten

Nachdem der vorsitzende Richter um kurz nach 9 Uhr die Sitzung eröffnet hat, begrüßt er zunächst den neuen Dolmetscher, der auf Nachfrage angibt, dass er allgemein vereidigt sei und nicht simultan, sondern abschnittsweise übersetzen wolle. Der Richter erklärt die Beweisaufnahme für beendet und stellt fest, dass keine Verständigung zwischen StA und Verteidigung stattgefunden habe. Daraufhin erteilt er der Staatsanwältin das Wort.

Plädoyer der Staatsanwältin
Die StA geht zunächst auf die fünf angeklagten Taten ein und erläutert im Einzelnen, an welchen Stellen ihrer Ansicht nach in der Beweisaufnahme Aussagen des Angeklagten widerlegt wurden oder Dinge ans Licht kamen, die dieser in seiner Einlassung verschwiegen habe. So erklärt sie, dass der Angeklagte sich auch um die Beschaffung von Dokumenten gekümmert habe, dass er selbst Flüge gebucht habe, dass er eine koordinierende Funktion bei der Entgegennahme des „Schleuserlohns“ gehabt habe, und dass bei Tat 3 er selbst und nicht sein Vater den Auftrag entgegengenommen habe.

Zur „Tätergruppierung“
Die Beweisaufnahme habe ergeben, dass es sich bei der Tätergruppierung sich um eine Bande gehandelt habe. Mehrere Personen hätten sich dauerhaft zusammengeschlossen und ein gut organisiertes Netzwerk über mehrere Länder beziehungsweise sogar Kontinente hinweg gebildet; es habe ständiger Kontakt zwischen den Bandenmitgliedern bestanden.
Ein Zeuge habe bestätigt, dass an jedem Ort andere Personen für ihn zuständig gewesen seien. Der Angeklagte habe selbst (wahrscheinlich in einem der abgehörten Telefonate, Anmerkung der Beobachterin) gesagt, der Hoca habe ein „ganzes Büro“ betrieben.
Bei dem Angeklagten habe es sich um ein vollwertiges Mitglied der Bande und somit um einen Mittäter gehandelt. Der Zeuge H. zu Tat 1 habe zwar gesagt, der Angeklagte sei lediglich „ein Läufer für den anderen“ gewesen, für seine Mittäterschaft spreche jedoch: dass er detailliert Auskunft geben konnte, Aufträge entgegen genommen habe, in Kontakt mit den Reisenden gestanden habe, schließlich den Schleuserlohn eingetrieben und hierfür auf ein ganzes Netzwerk von Helfern zurückgegriffen habe. Ohne die Handlungen des Angeklagten hätten die Schleusungen nicht stattfinden können, so die Einschätzung der StA. In Telefonaten, die keiner der fünf angeklagten Taten zugeordnet werden konnten, habe der Angeklagte wiederholt gesagt, er werde sich um ein Hotel kümmern, er werde Visa besorgen etc.
Die Staatsanwältin ist überzeugt, dass es weitere Taten gab, die lediglich nicht hätten nachgewiesen werden können. Sowohl der Angeklagte als auch sein Vater hätten in Telefonaten gesagt, 300-400 beziehungsweise 400-500 seien schon gebracht worden. Dabei habe es sich entgegen der Einschätzung des Gerichts (vermutlich bezogen auf das Urteil im Verfahren gegen den Vater, Anmerkung der Beobachterin) nicht um Großspurigkeit gehandelt.
Teilweise habe der Hoca am Telefon den Angeklagten um Rat gefragt und nicht umgekehrt. Die StA ist der Meinung, dass der Angeklagte den Hoca entgegen seiner Aussage in der Einlassung sehr gut gekannt habe: beide hätten sehr häufig telefoniert – teilweise mehrmals am Tag. Außerdem sei über vertrauliche Dinge gesprochen worden, so etwa über die Festnahme des Vaters und eine Wohnung des Hoca (Anmerkung der Beobachterin: hier könnte es aber genauso um geschäftliche Dinge gegangen sein. Der Vater hat schließlich ebenfalls mit dem Hoca zusammengearbeitet, und bei der Wohnung könnte es sich um eine Wohnung gehandelt haben, in der Geschleuste untergebracht wurden, was die StA auch selbst einräumt).
Der Angeklagte sei schon vor der Festnahme des Vaters im Juni 2014 in einer koordinierenden Funktion gewesen. So sei Geld auf seinen Namen geschickt worden, er habe den Vater dann informiert. Folglich handele es sich bei der Angabe, der Angeklagte habe lediglich Hilfstätigkeiten ausgeführt, um eine Schutzbehauptung.
Die zu Schleusenden seien weiterhin nicht alle Verwandte des Angeklagten gewesen; dagegen würden auch die abfälligen Bemerkungen sprechen („ich ficke seine Ehre“, der „ehrlose Vater“ des X). Der Zeuge H. sei zudem kein Jeside, sondern Moslem, wie er selbst angegeben habe. (Wieso die StA diesen Umstand für erwähnenswert hält, erläutert sie nicht näher.)

Zur Gewerbsmäßigkeit
Zum mutmaßlichen Gewinn der Schleuserbande stellt die StA eine Berechnung vor: Für die Flüge von Istanbul nach Brasilien und von dort nach Europa seien jeweils einige hundert Euro veranschlagt worden. Dabei legt die StA Wert darauf hervorzuheben, dass die tatsächlichen Preise wahrscheinlich niedriger gewesen seien, weil es generell billiger sei, die Flüge direkt in der Türkei zu buchen (wie sie zu dieser Einschätzung kommt, erläutert sie nicht) und weil zudem für die Buchungen auf ein Reisebüro zurückgegriffen worden sei, was ebenfalls zu Einsparungen führe. Für Bestechungsgelder an den Flughäfen in der Türkei und Brasilien seien rund 3000 Euro veranschlagt worden (worauf sich diese Vermutung stützt, bleibt ebenfalls unklar).
Nach dieser Berechnung bleibe ein erheblicher Gewinn für die Gruppierung. Es habe sich bei den Schleusungen um ein „knallhartes Geschäft“ gehandelt, in welchem humanitäre Gründe keine Rolle gespielt hätten. So habe es bspw. keine Reduzierung des Preises für Kinder gegeben.
Eine Gewerbsmäßigkeit sei auch beim Angeklagten gegeben gewesen, er habe nämlich zuvor keine Beschäftigung gehabt. Er sei in der Schleuserbande tätig geworden, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Hierfür habe er nach eigener Aussage pro Woche vom Hoca 100 Euro erhalten und sei ab und zu zum Essen eingeladen worden. Die Staatsanwältin bezweifelt jedoch, dass der Angeklagte von so wenig Geld in Istanbul leben konnte und geht davon aus, dass er zusätzlich für die Schleusungen Provisionszahlungen in Höhe von 500 Euro erhalten habe. Das habe sich auch aus einem der abgehörten Telefonate ergeben.

Minderschwerer Fall?
Bei der Überprüfung der Frage, ob es sich bei den Taten um einen minderschweren Fall nach § 97 Abs. 3 AufenthG gehandelt hat, stellt die Staatsanwältin die Schutzbedürftigkeit der syrischen Flüchtlinge in Frage: Keine_r der Geschleusten sei direkt aus einem Kriegsgebiet gerettet worden, alle hätten sich im Gegenteil bereits seit mehreren Monaten in der Türkei befunden und seien dort in Sicherheit gewesen.
Tat 1: Der Zeuge, der syrischer Staatsangehöriger sei, habe angegeben, er habe in der Türkei kein finanzielles Auskommen gefunden. Er sei also aus finanziellen Gründen nach Deutschland gereist, so die Interpretation der StA.
Tat 2: Bei dem Geschleusten habe es sich um einen syrischen Staatsangehörigen gehandelt, der zum Militär eingezogen werden sollte. Es sei zwar nachvollziehbar, dass der Zeuge nicht im Krieg habe kämpfen wollen, so die StA; andererseits stelle sich aber die Frage, wer sich denn dem IS entgegenstellen solle, wenn nicht junge syrische Männer.
Tat 3: Die syrischen Staatsangehörigen hätten sich schon seit September 2013 in der Türkei befunden.
Tat 4: Hier hätten sich die syrischen Staatsangehörigen zunächst einen Monat in Viransehir aufgehalten, dann hätten sie sechs Monate in Istanbul gelebt.
Tat 5: Der Geschleuste sei kein Kriegsflüchtling, sondern ein türkischer Staatsangehöriger gewesen, der zwar Probleme in seinem Heimatdorf gehabt habe, diesen Problemen aber bereits seit mehreren Monaten durch seinen Umzug nach Istanbul entgangen sei.

Für die geschäftlichen Interessen der Schleuserbande spreche, dass die Geschleusten für ihre Unterkunft und Transfers zum Flughafen während der Schleusung selbst hätten aufkommen müssen. In den überwachten Telefonaten gebe es keinerlei Hinweise auf altruistische Motive. Die StA wiederholt an dieser Stelle noch einmal, dass keine Reduzierungen gewährt worden seien. Wenn nicht vorher gezahlt worden sei, sei „gar nichts gemacht“ worden.
Die Komplexität der Schleusungen deute schließlich auf eine „erhebliche kriminelle Energie“ hin. Der Angeklagte sei bereits vorbestraft, wenn auch nicht einschlägig. Sein Eingeständnis sei lediglich prozesstaktisch gewesen. Er habe sich dem Verfahren nicht gestellt, sondern sei an der türkisch-bulgarischen Grenze festgenommen worden.

Zur Strafzumessung
Die StA betont erneut, dass es sich bei dem Geständnis des Angeklagten nur um eine „prozesstaktische Teileinlassung“ gehandelt habe. Fragen der StA seien nicht zugelassen worden, es seien weiterhin keine Angaben über weitere beteiligte Personen (bspw. den Hoca) gemacht worden. Gegen den Angeklagten spreche ferner, dass die hier angeklagten Taten nur „die Spitze des Eisbergs“ seien, hinzu kämen seine „hohe kriminelle Energie“ und die Tatsache, dass er bereits strafrechtlich in Erscheinung getreten sei.
Insgesamt beantragt die Staatsanwältin eine Freiheitsstrafe von vier Jahren sowie die Anordnung von Verfall von Wertersatz in Höhe von 2500 Euro.

Um 9:57 Uhr übergibt der vorsitzende Richter das Wort an die Verteidigerin.

Plädoyer der Verteidigung
RAin Tuku zitiert eingangs aus einer Pressemitteilung des niedersächsischen Flüchtlingsrats anlässlich der bevorstehenden Urteilsverkündung im Prozess gegen Ismail G., in welcher der „unverhältnismäßige Verfolgungseifer der Staatsanwaltschaft gegen Fluchthelfer“ kritisiert wird. Diese Bewertung halte sie für sehr zutreffend.

Daraufhin geht die Verteidigerin im Detail auf die angeklagten Taten ein und begründet, warum ihrer Meinung nach die Beweisaufnahme die Einlassung des Angeklagten bestätigt oder zumindest nicht widerlegt hat. So führt sie an, dass der Zeuge H. den Angeklagten als „Läufer“ des Hoca bezeichnet habe. Die verlesenen TKÜ-Protokolle zu Fall 2 hätten gezeigt, dass der Angeklagte die Bedingungen des Hoca weitergegeben und Leute über den Verbleib ihrer Angehörigen informiert habe. Aus Protokollen zu einem weiteren Fall gehe schließlich hervor, dass die Geschleusten um 500 Euro gefeilscht hätten, weil sie mit der Schleusung nicht zufrieden gewesen seien (sie hätten sich die Reise kürzer vorgestellt). Der Angeklagte habe den Geschleusten die 500 Euro letzten Endes erlassen und damit auf seine Provision vom Hoca verzichtet.

Insgesamt kritisiert die Verteidigerin die „simple und einseitige Interpretation der TKÜ-Protokolle“ durch die StA. Die Behauptung von Polizei und StA, der Angeklagte habe pro Fall mehrere tausend Euro erhalten, habe sich nicht bestätigt. Bei dem Vorwurf, der Angeklagte habe Flüge gebucht, handele es sich lediglich um eine Vermutung der StA. Die Aussagen über den mutmaßlichen Gewinn der Gruppe würden auf einer „Milchmädchenrechnung“ basieren; auch sei der Erhalt von Provision offen geblieben.

Politischer Kontext des Verfahrens
In Reaktion darauf, dass die Staatsanwältin in ihrem Plädoyer die Schutzbedürftigkeit der syrischen Flüchtlinge in Frage gestellt hat, geht RAin Tuku auf den politischen Kontext ein, in dem die „Schleusungen“ durchgeführt wurden und das Verfahren gegen ihren Mandanten stattfindet. Das BAMF habe alle Geschleusten als Flüchtlinge anerkannt und die Einschätzung der StA somit widerlegt. Keine_r der Geschleusten habe im Übrigen in der Türkei Asyl genossen oder ein anderes Aufenthaltsrecht gehabt, alle hätten sich illegal dort aufgehalten. Aus der geltenden Gesetzeslage ergebe sich, dass Flüchtlinge zunächst kriminalisiert würden und auf Fluchthilfe angewiesen seien, um überhaupt in die EU einreisen und Asyl beantragen zu können. In der PM des Flüchtlingsrats werde treffend darauf hingewiesen, dass Fluchthilfe vor 40 Jahren ganz anders bewertet worden sei. Der BHG habe 1977 entschieden, dass Menschen, die Flüchtende dabei unterstützen, „das ihnen zustehende Recht auf Freizügigkeit zu verwirklichen“, sich auf „billigenswerte Motive“ berufen könnten. Einige Fluchthelfer hätten für ihre damaligen Taten sogar das Bundesverdienstkreuz erhalten.
Der Angeklagte habe sich eindeutig strafbar gemacht. Andererseits seien die Geschleusten ohne seine Hilfe heute vermutlich nicht mehr am Leben. Die Flucht sei eine Strapaze, aber zugleich der einzige Ausweg gewesen. RAin Tuku hebt hervor, dass es sich bei den angeklagten Taten um „Luxusschleusungen“ gehandelt habe. Es habe keine Gefahr für die Geschleusten bestanden, sie seien gut betreut worden und es habe ständig Kontakt zu den Verwandten in Europa bestanden.

Der Angeklagte sei von einigen Flüchtenden genervt gewesen und habe schlecht über sie geredet. Das sage aber nichts über seine Motive aus. Er habe zudem eigene Interessen verfolgt: in Istanbul sei er in einer schwierigen Situation gewesen, dann sei sein Vater festgenommen worden, schließlich sei er wegen seiner mittellosen Lage in sein Heimatdorf gegangen und habe sich dort für syrische Geflüchtete engagiert.

Abschließend geht die Verteidigerin auf die persönlichen Verhältnisse des Angeklagten ein. Als sie kritisiert, dass die StA dessen geplante Rückkehr in die Bundesrepublik erschwert habe, kommt es zu einer Auseinandersetzung mit der StA. Der Angeklagte habe gewusst, dass sein Vater festgenommen worden sei, zudem sei das Haus seiner Eltern durchsucht worden und die StA habe für seinen Vater eine mehrjährige Haftstrafe gefordert, so RAin Tuku. Vor diesem Hintergrund habe er wissen wollen, was ihn bei seiner Rückkehr erwarte – sein Auskunfts- beziehungsweise Verständigungsgesuch sei jedoch von der StA „patzig blockiert“ worden. In diesem Moment ruft die StA, das sei „nicht wahr“, woraufhin RAin Tuku sagt, die StA solle ihr Plädoyer nicht unterbrechen. Nun schaltet sich der vorsitzende Richter ein und sagt, jetzt sei das Plädoyer der Verteidigung an der Reihe, die StA solle nicht unterbrechen.

Die Verteidigerin betont abschließend, dass der Angeklagte mit seiner frühen Einlassung zur Tataufklärung beigetragen habe und beantragt eine geringe Haftstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt werden solle.

Der Richter erteilt nun dem Angeklagten das letzte Wort; dieser möchte sich allerdings nicht mehr äußern (er habe bereits alles gesagt).

Um 10:23 Uhr wird die Sitzung unterbrochen. Die Urteilsverkündung ist für den Folgetag um 9 Uhr angesetzt.

Eine Druckversion (pdf) des Protokolls gibt es hier.