Amtsgericht Tiergarten Saal 571, 10.11.2014, 10:00 h bis kurz nach 12:00 h
Vorfall
Hintergrund des Falles ist, dass ein Wissenschaftler der FU Berlin vor über zwei Jahren an der U-Bahn Kottbusser Tor Zeuge einer polizeilichen Praxis wurde, die er als rassistisch wahrgenommen hat. Er sah, wie zwei junge Männer, vermutlich arabischer Herkunft, aufgehalten und – aus seiner Sicht ohne Grund – von Polizeibeamten aggressiv nach ihren Personalien gefragt wurden. Der damalige Zeuge dieser Handlung protestierte gegen das Verhalten der Polizeibeamten. Nach er sich bei den Polizeibeamten nach dem Grund der polizeilichen Kontrolle erkundigen wollte, wurde auch er von den Beamten harsch zurückgedrängt. Daraufhin bezeichnete er die Beamten als „Rassisten”, um die beobachtete Szene zu kritisieren.
Das Amtsgericht erließ gegen ihn deshalb einen Strafbefehl wegen Beleidigung. Nach Einspruch der Verteidigung gegen den Strafbefehl wurde zunächst informell mit der Staatsanwaltschaft und dem Gericht verhandelt. Die Verteidigung regte eine Einstellung des Verfahrens an und zeigte sich einverstanden mit der Zahlung einer Auflage. Die Staatsanwaltschaft stimmte einer Einstellung zu, allerdings groteskerweise gegen Zahlung einer Auflage an eine Organisation, die die “Rechte der Polizei schützt”. Dies wurde von der Verteidigung abgelehnt.
(KOP (2014), in: https://www.kop-berlin.de/veranstaltung/aufruf-zur-prozessbeobachtung-und-solidaritat eingesehen am 10.11.14 13:17 h)
Protokoll
An der Verhandlung Teilnehmende:
Angeklagter (A), weiß, Professor
Richterin (R ), weiß
Staatsanwältin (StA), weiß
Verteidiger 1 (V1), weiß
Verteidigerin 2 (V2), PoC
Zeuge A (A), weiß, 36, Polizeibeamter
Drei weitere Zeugen, weiß, Polizeibeamte (werden nicht befragt)
Verlauf:
Anhörung des Angeklagten
Der Angeklagte berichtet, dass er am 4.6.2013 im Kottbusser Tor aus der U-Bahn gestiegen ist und dort einige Polizisten mit zwei Jugendlichen mit einem „Hintergrund“ stehen sah. Seine Motivation, sodann stehen zu bleiben, begründet er ausholend mit seiner Sozialisation: er wolle bewusster Bürger statt Mitläufer sein, er gehe nicht weg, wenn es einen Konflikt im Öffentlichen Raum gebe. Weiterhin hebt er sowohl seine Tätigkeit beim Roten Kreuz, die er mit Neutralität und Impartialität verbindet, hervor, sowie seine Tätigkeit als Archäologe und Anthropologe, in dessen Zusammenhang er das Phänomen „race“ erklärt als soziales Konstrukt.
An dieser Stelle unterbricht ihn die Richterin, ob „wir nicht einfach mal zur Sache kommen“ können. Der Verteidiger (i.F. V1) spricht sich für seinen Mandanten aus, der sodann fortfahren kann, jedoch die Erklärung über „race“ und Rassismus abkürzt.
Mit diesem Hintergrund sei er an der U-Bahn stehen geblieben, bekam sodann einen Platzverweis und wurde nach seinem Ausweis gefragt. Er hatte jedoch nur einen ‘amerikanischen’ Führerschein. Die Jugendlichen hatten wohl „nur geraucht“, wurden aber körperlich untersucht. Dies beobachtend, habe er „Ihr Rassisten!“ in die Gruppe gerufen. Das sei keinesfalls persönlich gemeint, sondern auf die allgemeine Situation bezogen gewesen, die er als rassistische Handlung deutete. Er betont, dass es nicht als „ehrverletzende“ Beleidigung gemeint war.
Eine Frau, die aus einer U-Bahn gestiegen war, habe gefragt, ob er Hilfe brauche, er habe aber verneint. Erst als die Situation aggressiver wurde und ihn eine weitere Frau, die sich als Anwältin vorstellte, fragte, ob sie helfen könne, stimmte er zu. Er wurde aber von ihr getrennt und die Treppe heruntergezogen zu einem Polizeibus. Ihm sei alles abgenommen worden und er sei untersucht worden. Dann habe er warten müssen und nicht an seine Arbeitssachen gedurft. Erst als er mit seiner Frau absprach, seinen Reisepass zu holen, konnte er damit schließlich gehen und war um 20:10 h zu Hause. Er habe sich gefragt, was passiert sei, hätten dort zwei Leute gestanden, die nicht so ausgesehen hätten, als hätten sie einen Migrationshintergrund gehabt. Er habe immer noch den Verdacht auf Racial Profiling.
R beginnt sodann mit ihrer ‘Befragung’:
Ob er es sich denn vorstellen könne, dass Leute beleidigt seien, wenn sie so beschimpft würden („So intelligent sind Sie ja?“). „Wenn man erst zu einer Entschuldigung aufgefordert werden muss, ist sie auch nichts mehr wert“, sagt sie weiterhin. An dieser Stelle bittet V1 um Protokollierung. Eine Diskussion entsteht, angespannte Stimmung, die Richterin hat die Arme vor der Brust verschränkt. Die Diskussion, wer gerade ungestört reden darf, kommt im Folgenden mehrmals vor. Verteidigerin 2 (i.F. V2, sie ist auch gleichzeitig die Anwältin gewesen, die in der U-Bahn-Station ihre Hilfe angeboten hatte) weist darauf hin, dass der Angeklagte Umgang mit der Polizei gewohnt sei und zu dem Thema unterrichte und dass für ihn diese Situation ohne Zweifel rassistisch gewesen sei. R räumt daraufhin ein, verstanden zu haben und fragt A, dass er aber ja den Anfang der Situation nicht mitbekommen habe? Weiterhin fragt sie: „Ansonsten haben die Polizisten sie aber korrekt behandelt?“. V1 springt ein, dass sein Mandant geschoben und die Treppe hinuntergezogen worden sei. R daraufhin: „Es passiert schon mal, dass man gezogen wird“. V1 bittet wiederum um Protokollierung. V2 zählt noch einmal auf, was ihrem Mandanten widerfahren ist: er sei die Treppe herunter gezerrt und über eine Stunde in eine Wanne eingesperrt worden, das sei rechtswidrig und Freiheitsberaubung. R darauf: „Sie können das ja so sehen“.
Die Staatsanwältin (i.F. StA) kommt nun zu Wort. Ohne eine Frage zu stellen, bemerkt sie, dass die Taten der Polizisten ja nur durch das Verhalten des Angeklagten ausgelöst worden seien (lachen im Zuschauerraum, das sich nun häufig wiederholen wird), wenn er sich so mit dem Thema befassen würde, müsse er die Provokation bewusst ausgelöst haben. Außerdem würden die Polizisten nur ihre Arbeit machen. Nach einer Anmerkung von V1 plädiert R für sachliche Fragen – mit der Ergänzung, dass das dann aber auch für die Verteidigung gelte (sie verwarnt also StA, aber nicht ohne gleichzeitig auch die Verteidigung zu kritisieren).
V1 und V2 stellen nun Fragen, mit deren Beantwortung der Angeklagte Einzelheiten ergänzt: Er habe einen Platzverweis erhalten und sei physisch zur Seite gedrängt worden, ursprünglich sei er von einer Univeranstaltung gekommen, im Polizeibus sei es ihm nicht erlaubt worden, zu arbeiten, die Anwältin habe ihren Ausweis deutlich gezeigt. Die Richterin fragt, ob Rauchen auf dem Bahnsteig denn ok sei. V2 und V1 weisen darauf hin, dass sie umfangreiches Material dazu vorbereitet hätten mit der Zuständigkeit der BVG an Stelle der Polizei.
Anhörung des Zeugen A
Der Zeuge A, 36, Polizeibeamter, wird herein gerufen und schildert das aus seiner Sicht Geschehene.
R stellt Fragen zu dem Rauchen, ob die Situation angespannt gewesen sei, ob die Polizeibeamten öfter Raucher auf den Bahnhöfen feststellen, ob A sich geweigert habe und ob er „bei Raucherschutzkontrollen auch schon einmal mit deutschen Rauchern zu tun“ gehabt hätte (Er: „Ja, natürlich“).
Als V2 nach der Zuständigkeit der Polizei- auch bei Fahrkartenkontrolle- fragt, schüttelt die Staatsanwältin den Kopf. Selbst die Richterin wendet an dieser Stelle ein, dass es ja kein Wochenende gewesen sei (der Zeuge hatte argumentiert, dass sie dann Rauchende kontrollieren dürften). Lachen bei den Zuhörenden, denen es klar zu sein scheint, dass das ‘Wissen’ des Zeugen A nicht korrekt ist. Der Zeuge A sagt aber, er persönlich würde aber immer ahnden (Ermessensreduktion auf null), eine Alternative hätte eine mündliche Verwarnung sein können. Auf Nachfrage sagt er, die beiden Herren seien „südländisch oder türkisch“ gewesen mit „südländischem Temperament“. Das sei eben häufig so in Kreuzberg. Es gibt mehrere Nachfragen auf Seiten der Verteidigung, ob er sich deutlich an den Fall erinnere oder Protokolle noch einmal gelesen habe, beziehungsweise sich mit Kollegen ausgetauscht habe. Der Fall sei ihm im Gedächtnis geblieben wegen des Doktortitels des Angeklagten, so Zeuge A. Wie er die Frage der Richterin verstanden habe, ob er auch schon einmal „Deutsche überprüft“ habe. Der Zeuge A: Die, die Deutsche aufgrund der Nationalität seien. V1: „Sie wussten doch gar nicht, ob sie Deutsche waren?“. Einer der beiden Beteiligten sei schließlich deutscher Staatsbürger gewesen (Zeuge: „Das ist ja auch gut so.“). Es wird nach weiteren Anzeigen wegen Rauchverbots gefragt. R drängt zur Eile und möchte es abkürzen: „Ich sitze hier aber nicht länger als drei Stunden!“. V1 fragt, ob der Zeuge in seiner Ausbildung oder Karriere schon einmal etwas von Racial Profiling gehört habe. Nein, habe er nicht, aber das mache er auch nicht, bei ihm spiele Nationalität oder Hautfarbe keine Rolle, entscheidend sei allein, ob die Person im Verdacht stehe, eine Straftat begangen zu haben. V1 äußert hierzu seine Bedenken.
„Urteil“ bzw. Einigung:
Nach einer Pause wird die Einstellung des Verfahrens verkündet. A hat binnen eines Monats 2500 € an das Internationale Rote Kreuz zu zahlen. Die Schlussbemerkung der Richterin: „Denn ich sehe ja auch, dass Sie kein notorischer Straftäter sind. Es gibt Schlimmeres als mal was gesagt zu haben, was einem hinterher leid tut. Und ich denke, wir werden uns hier nicht wieder sehen“. Den weiteren drei noch nicht befragten Zeugen (Polizisten) wird verkündet, dass sich friedlich geeinigt worden war.
Anmerkungen:
= ein Outcome des Prozesses: es wird sehr deutlich, wie sich die Akteur_innen, die Teil des Systems sind (Richterin, Staatsanwältin, Polizist) zugehörig fühlen und eine Front bilden gegen die sich einander zugehörig fühlenden Angeklagten und Verteidiger_innen,
Verhalten ist eindeutig nicht neutral, genervte Blicke, Augenverdrehen, aus dem Fenster schauen, Unsachliche Fragen, die nichts mit den Vorgängen am Tag zu tun haben, wiederholte Aufforderungen sich kurz zu fassen, unverschämte Einwürfe und Unterbrechungen gegenüber dem Angeklagten. Verständnisvolles Zuhören, höfliche Anreden, Verständnis auch bei offensichtlichem Fehlverhalten oder widersprüchlichen Aussagen seitens der Polizei.
Sehr viele Menschen anwesend, offenbar größtenteils aus Umfeld des Angeklagten (Studierende und privates Umfeld)
-Hinweis für Reaktionsmöglichkeit: sagen, mensch habe etwas „akustisch nicht verstanden“, sodass es lauter wiederholt wird und so mehr Bedeutung erlangt.
Eine Druckversion (pdf) des Protokolls gibt es hier.